Rollerprüfung

Die Rollerprüfung

 

Eines Mittags rührte Erna Hagenkötter in der Suppe. Plötzlich fiel ihr ein, dass sie die Würstchen vergessen hatte. Das würden ihr ihre Kinder nie verzeihen. Sie stellt den Herd kleiner, schnappte sich ihr Fahrrad und raste zum Supermarkt an der Ecke. Wie der Teufel es wollte traf sie im Laden Frau Gisela Schlüter, eine ehemalige Klassenkameradin. Ehe sich Erna hinter einem Regal verstecken konnte, hatte Gisela sie schon gesehen und mit einem Satz war sie bei ihr. Mit einem abschätzenden Blick betrachtete Gisela Erna, der jetzt erst bewusst wurde, wie sie mal wieder aussah. Auf den Schlappen und im Jogginganzug stand Erna da und Gisela war wie immer aus dem Ei gepellt. Dann kam das Übliche: „Wie geht’s, wie steht’s?“ Und eh sich die beiden versahen gerieten sie in ein anregendes Gespräch. Ihre Einkaufswagen standen im Weg und die bösen Blicke, die sie zugeworfen bekamen nahmen sie nicht mehr wahr.

„Meine Tochter Michaela“ fing Erna an zu erzählen, „wollte die Rollerprüfung machen und übte für die theoretische Prüfung mal mehr, mal weniger, und das über Monate. Als Mutter war ich es dann satt, immer wieder zu drängen, ‚Michaela du musst mehr üben’ und so schmiedeten ich und mein Mann einen Plan. Wir sagten ihr, es wäre jetzt langsam an der Zeit, die Prüfung abzulegen und sagten ihr, ‚du bist gut vorbereitet und du schaffst das’. In Wirklichkeit dachten wir, sie wird durchfallen, und ihr Ehrgeiz würde geweckt, so dass sie mehr üben würde. Gesagt, getan.“

Michaela ging schweißgebadet zur Prüfung. Als sie aufgerufen wurde, blickte ich ihr noch einmal aufmunternd zu. Was keiner geglaubt hatte, sie kam schreiend und hüpfend aus dem Prüfungsraum, sie hatte bestanden. Ich sagte sogleich: „Hab ich doch gewusst, das du das schaffst, du kommst ja auch auf mich!“

 

Den nächsten Tag durfte Michaela das erste Mal auf einen Roller steigen. Der Fahrschullehrer schickte sie in einer Straße mit dem Roller rauf und runter. Anfangs noch etwas ängstlich, fuhr sie später immer mutiger. Als die Angst fast verflogen war, sollte sie eine kleine Kurve fahren. Und da passierte es! Der Roller wurde immer schneller, die Kurve immer enger und „Wo war gleich die Bremse?“ Schon schoß sie ins Gebüsch und machte einen Satz vom Roller. Da lag sie nun! Nur nicht auffallen sagte sie zu sich und versuchte den Roller aus dem Gebüsch zu zerren. Da kam auch schon der Fahrschullehrer: „Hast du dir was getan und überhaupt, am Roller befindet sich auch eine Bremse“, meinte er. Sie dachte sich, für heute reicht es mit dem Üben, aber weit gefehlt, denn jetzt sollte sie im Berufsverkehr fahren. Sie schwitzte aus allen Poren, so viele Autos auf der Straße. Aber auch diese Stunde ging vorbei.

 

Ihr 16. Geburtstag rückte immer näher und Michaela wollte bis dahin mit aller Gewalt ihre praktische Prüfung hinter sich haben. So quengelte sie und da Mama ja so wie so nicht nein sagen kann, fuhren wir auf einem Sonntag zum Verkehrsübungsplatz. Ich als besorgte Mutter weiß nicht, man ich je in meinem Leben so viel gelaufen bin. Michaela saß auf dem Roller und ich lief nebenher und gab Anweisungen: „Halt den Roller gerade“, „Schau nach vorne“, „Achtung da kommt ein Auto!“ Nach der 8. Runde um den Platz lief ich immer noch hinter ihr her. Anweisungen konnte ich keine mehr geben, erstens hatte meine Stimme längst versagt, weil ich immer so laut brüllen musste, zweitens kamen meine Beine nicht mehr mit, so dass mir der Sichtkontakt fehlte und drittens wusste ich überhaupt nicht, ob Michaela noch wusste, dass ich da war, denn sie fuhr wie sie wollte. Die Autofahrer, die ständig in die Eisen gehen mussten, weil wieder ein Roller unangemeldet auftauchte, verloren allmählich die Lust. Ich lief wie ein aufgeregtes Reh herum und versuchte mit einem Achselzucken Mitleid bei den Autofahrern zu erhaschen. Nach 1½ Stunden sammelte ich meine Kleidungsstücke von der Bahn auf, die dich in der Eile ablegen musste, weil mir durchs Laufen und vor Angst um Michaela warm geworden war, oder anders, ich habe Blut und Wasser geschwitzt.

Was uns Mütter nicht tötet macht uns noch härter.

Als wir die Arena des Grauens verließen meinte Michaela: „Das macht tierisch viel Spaß auf dem Roller und das ist ja ein Kinderspiel, ich könnte noch Stunden so weiterfahren“. Ich ging neben ihr mit hängenden Schultern und langsamen Schrittes und nuschelte mir in den Bart: „Das ist eine Sache des Betrachters“. Für mich war klar, dass das eine einmalige Sache gewesen ist. Meine Nerven machen das nicht mit, meine Stimmbänder werden sich sicherlich nicht mehr erholen und Joggen über weite Strecken war noch nie mein Ding. Ob Michaela mir noch Tage später den körperlichen Verfall angesehen hat oder ob sie mir glaubte, als ich sagte: „Zum Verkehrsübungsplatz finde ich bestimmt nicht mehr hin und außerdem haben die ab Mitte Dezember geschlossen“, ich weiß es nicht. Jedenfalls wurde über eine Fortsetzung auf dem Platz nie mehr gesprochen, das Thema war tabu. Mein Gedanke war immer, soll sich doch der Fahrlehrer die Nerven zerstören lassen, der bekommt wenigstens Geld dafür. Mir war auch egal, was es kostet.

Gesagt, getan, die folgenden Stunden übte sie mit dem Fahrlehrer und es muss wohl gut gegangen sein. Nach kurzer Zeit stand die praktische Prüfung ins Haus. Alle Leverkusener, die mir nahe standen, rief ich an und riet ihnen doch, ihre morgendlichen Einkäufe auf mittags zu verlegen, ich hätte im Radio gehört, ein Geisterfahrer sei unterwegs. Wie viel „Ave Maria“ ich gebetet habe, weiß ich nicht mehr. Als sie dann gegen Mittag kam und den langersehnten Lappen in der Hand hatte, dachte ich nur: „Wie können die Prüfer eine Wahnsinnige in den Straßenverkehr lassen?“ Aber wenn ich so überlege, wie viele Autofahrer zu blöd sind, um gescheit zu fahren, dann kommt es auf die eine Rollerfahrerin auch nicht mehr an.

 

Während ich so erzähle, verspüre ich plötzlich einen Schmerz in meiner Ferse. Ein anderer Kunde fuhr mir mit dem Einkaufswagen in die Filmbeine und ich merkte plötzlich, was ich mich verquatscht hatte. Ich schaute auf die Uhr: „Mensch Gisela, wo ist die Zeit geblieben?“, „ich wollte doch nur ein paar Würstchen kaufen, jetzt muss ich aber los.“ „Was sagst Du, Dir geht es gut? Das freut mich, jetzt halt mich aber nicht weiter auf, ich bin nämlich in Eile!“ An der Wursttheke steht der blöde Kerl, der mir eben noch in die Hacken gefahren war und fragt mich: „Kann ich vor, ich habe es eilig? Ich, nicht auf den Mund gefallen, antworte ihm: „Meinen Sie etwa, ich komm hier zum Zeitvertreib hin? Ich habe es noch viel eiliger als Sie!“

Mit der Wurst in der Hand hetze ich heim. Zuhause angekommen bemerke ich, dass ich mich gar nicht so beeilen hätte müssen, denn die Suppe war mittlerweile verkocht und die Würstchen überflüssig.

Andererseits dachte ich mir, die Kinder mögen eh keine Suppe und freuen sich bestimmt, wenn sie sich Pommes holen können.